Soziale Bewegungen in Freiburg

(von Michael Berger) · Die sozialen Bewegungen in Freiburg variieren nur geringfügig die Muster anderer Universitätsstädte. Die unterschiedlichen Ausprägungen überschnitten sich zeitlich. 1970 ist die Studentenbewegung zu Ende, 1975 wird der Bauplatz in Wyhl besetzt, die Frauenbewegung hat sich formiert, an der Universität agieren K-Gruppen und Spontis, 1980 war der Höhepunkt der Hausbesetzungen, 1985 zeichnet sich das Ende der Hausbesetzungen ab, aus den Bewegungen werden Institutionen: gemeinnützige Vereine, Genossenschaften und Firmen.

Die Studentenbewegung

1968 war der Höhepunkt der Studentenbewegung, die sich fast unbemerkt zehn Jahre vorbereitet hatte. Die Studentenbewegung entwickelte alle Protestformen, die von den nachfolgenden neuen sozialen Bewegungen, übernommen wurden.
Neu gegenüber den älteren sozialen Bewegungen, wie der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts oder Jugendbewegung nach dem 1. Weltkrieg war, dass die Studentenbewegung kaum organisiert war. Sie entstand als mehr oder minder zufällige Zusammenschluss kleiner heterogener Personengruppen. 10-20 Personen an einzelnen Universitäten bildeten den Kern von etwa 100-200 Aktiven. Die kleine Anzahl wurde durch die Medien kompensiert, Springerpresse und Tagesschau verschafften ihr breite Aufmerksamkeit. Auf ihrem Höhepunkt konnte die Studentenbewegung etwa 10.000 Personen mobilisieren. Es gab Wortführer, aber keine Führer, es bestand der Anspruch völliger Gleichberechtigung. Aber schon bald bildeten sich informelle Hierarchien, es gab Leute, gegen die niemand etwas entscheiden wollte, was endlose Konsensdebatten produzierte.
Die Studentenbewegung war die Antwort auf eine politische Lage, die einer Minorität erlaubte, sich als Sprachrohr der Gesellschaft zur Geltung zu bringen. Die boomende Wirtschaft, der wachsende allgemeine Wohlstand, die Erstarrung der politischen Parteien, gekennzeichnet durch den Slogan Adenauers, „Keine Experimente“, die Disparität der Gesellschaft, in der alle Bereiche, die irrtümlicherweise wirtschaftlich unwichtig schienen, systematisch vernachlässigt wurden: das Bildungswesen, Randgruppen, Obdachlose, Kriminelle, ethnische Minderheiten. Die Notstandsgesetzgebung, sollte die gerade errungenen Grundrechte wieder einschränken. Wichtig waren auch die kolonialen Befreiungsbewegungen in Asien und Afrika und der ständig eskalierende Vietnamkrieg. Die alte Linke, SPD und Gewerkschaften, aber auch der real existierende Sozialismus galten als kompromittiert. Die Rolle des Industrieproletariats zur Heraufführung einer Revolution war unglaubwürdig geworden. Anstelle der Hoffnung auf Revolution trat ein diffuser Protestbegriff, der Antifaschismus, Antirassismus, Antisexismus und Kulturkritik zu integrieren ermöglichte. Diese Vagheit der Inhalte ermöglichte Personen zu binden, die keiner Partei angehörten und kein Programm wollten.
Die unerwartet protestierende Minorität gehörte nicht wie die Arbeiterbewegung einer bestimmten Klasse an. Es war eine Generation von Jugendlichen, zwischen 1938 und 1944 geboren, zu deren Kindheitserfahrungen beispiellose Verwüstungen, Trümmer und Hunger gehörten, aber auch Erfahrungen von Improvisation und Freiheit. Den spät aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden autoritären Vätern und der Aufforderung in kleinliche Familienverhältnisse zurückzukehren, begegneten sie mit Ablehnung. Die Krawalle 1956-1958 waren ein erstes Anzeichen ihres Protestes. Der Film „Die Halbstarken“ mit Horst Buchholz und Karin Baal (1956) oder Filme mit James Dean hatten ein überwältigendes Echo und erzeugten eine imitierbare Ausstrahlung von Unberührbarkeit und Verletzlichkeit der Helden. Die Pop- und Jazzmusik, schon früh von Militärsendern verbreitet, brachte die Unterscheidung von hoher Kultur und Trivialkultur durcheinander. Woodstock (August 1969) war das sichtbarste Zeichen dieser neuen Kultur. Die 1963 endlich beginnenden Prozesse gegen die KZ Bewacher von Auschwitz führten zum Misstrauen gegen die Eltern, die über ihre Rolle im Dritten Reich verstockt schwiegen. Der an den Universitäten bekanntwerdende Existenzialismus, die Lektüre von Marx, die Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule, vor allem Adornos führten zu einer neuartigen Deutung des eigenen Elends als von der Gesellschaft verursacht. Man musste es nicht mehr vor anderen verbergen, sondern konnte es als gesellschaftliches Unrecht hinstellen. Intimste Orgasmusprobleme wurden diskutierbar, weil sie nicht persönlich, sondern sozial verursacht erschienen. Heinz Bude bezeichnet daher als das eigentlich Neue der Studentenbewegung, dass „Klagen des Selbst zum legitimen Gegenstand politischer Forderungen geworden sind.“ (59) Das Private ist politisch geworden und umgekehrt. Das war ein Bruch mit der bürgerlichen Kultur, die persönliches Unglück als rein persönlich betrachtete, undenkbar, um nochmals aufs Kino zurückzukommen, dass Humphrey Bogart sein persönliches Pech als gesellschaftlich verursacht deklariert hätte. Die Politisierung des Privaten war zugleich ein demokratischer Schub. Umfassende Beteiligungsrechte an den bestehenden Institutionen wurden entschieden eingefordert. Gleichzeitig überlastete diese Neuheit und Offenheit der Ziele die Beteiligten, was mit zum Ende der Bewegung führte.