Wyhl
Mit der Widerstandsbewegung gegen das geplante Kernkraftwerk Wyhl kam ein neuer Typus von sozialer Bewegung auf. 1971 wurde mit dem Bau des AKW in Fessenheim begonnen. Eine Gruppe von Ärzten und Wissenschaftlern gründete das „Oberrheinische Komitee gegen Umweltgefährdung durch Atomkraftwerke“. Zusammen mit Chemikern der Universität Freiburg begannen sie, die Gefahren der Atomenergie bekannt zu machen. Es war im Unterschied zur Frauen und Studentenbewegung nicht ihr persönliches Leiden, was sie bewegte, sondern ihre Verantwortungsgefühl für eine langfristige Zukunft. Sie wandten sich an die Winzer und Tabakbauern des Kaiserstuhls, die durch die Kühltürme ihre Erträge gefährdet sahen. Anders als die Studenten – und Frauenbewegung verfolgen die Kaiserstühler keine allgemeinen Ziele von Emanzipation und Selbstverwirklichung, sondern vergleichbar mit der alten Arbeiterbewegung ihre harten wirtschaftlichen Eigeninteressen. Sie benutzen die Protestformen der Studentenbewegung, indem sie ihre private Betroffenheit als politisch, d. h. gegen das Gemeinwohl gerichtet glaubhaft machen konnten. Ihr Anspruch unmittelbar ohne Vermittlung von Parteien mit der Landesregierung zu verhandeln, stärkte die basisdemokratischen Strömungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Der Verlauf, von vielen Zufällen geprägt, sei nur kurz in Erinnerung gerufen. In vier langen Jahren Agitationsarbeit wächst die Bewegung auf 50 verschiedene Initiativen an, die sich auf Überparteilichkeit, Gewaltfreiheit und Respektierung von Mehrheitsbeschlüssen einigten. Nachdem die Gemeinde Wyhl aus verständlichen wirtschaftlichen Gründen im Januar 1975 zu 55% dem AKW zugestimmt hatte, wurde die Baugenehmigung erteilt und die Bauarbeiten begannen. Am 18. Februar wurde der Bauplatz besetzt, am Tag darauf geräumt und drei Tage später von 20.000 Menschen wiederbesetzt. Es entstand eine einmalige Protestkultur, die Städter und Bauern, Akademiker und Winzer, Kaiserstühler, Elsässer und Schweizer mischte. Touristenströme besuchen den Platz, eine Volkhochschule Wyhler Wald unterrichtete nicht nur über Kernenergie, sondern über Arbeitskämpfe bis zurück zu den Bauerkriegen der frühen Neuzeit. Die Verkehrssprache war Dialekt, eine Liedkultur (Buki und Walter Moßmann) entstand, ein illegales Radio (das bis heute als Radio Dreyeckland besteht) informierte täglich über alles. Nach heftigen internen Auseinandersetzungen der Initiativen wurde der Bauplatz nach acht Monaten aufgegeben, um eine Verwaltungsgerichtsentscheidung abzuwarten. Dieser Entschluss kam auch durch immense Schadensersatzforderungen gegenüber den Besetzern zustande. Die erste Instanz in Freiburg sprach nach Anhörung von 47 Gutachtern eineinhalb Jahre später einen Baustop aus. Fünf Jahre später, im März 1982 genehmigte aber die letzte Gerichtsinstanz den Bau. Die Landesregierung unter Lothar Späth war so besonnen, auf den Bau zu verzichten.
Die Ereignisse hatten schon viele Elemente, zum Mythos zu werden: der Wald, der Rhein, drei Länder, die Lieder, das Lagerleben, die Mischung von Bauern und Städtern, die vielseitige Spontaneität, die bedächtige Zurückhaltung der Polizei, das Wohlwollen der Bevölkerung. Die Ermutigung für nachfolgende Bewegungen war groß: Brokdorf, Grohnde, Kalkar, Gorleben, Startbahn West in Frankfurt zehrten von Wyhl. Je entfernter, um so wirksamer. Das 30 km entfernte Fessenheim, das 1977 in Betrieb ging, konnte trotz vieler Aktionen nicht verhindert werden. Ebenso wenig die Schweizer AKWs in Leibstadt und Gösgen. Es kam zu einer explosionsartigen Zunahme des Umweltbewusstseins und eine wachsende Ablehnung der Atomkraft. Die Entstehung der GRÜNEN geht mit auf die Antikernkraftbewegung zurück, ihre Wahlerfolge in Freiburg waren eine Langzeitfolge von Wyhl.